Wenn ich weiß, dass mir eine Woche bevorsteht, die sich schon beim Gedanken daran anfühlt wie eine Hose, die im Stehen gerade noch geht, aber spätestens beim Sitzen kneift – dann ziehe ich samstags blank. Innerlich. Ganz bewusst. Und gehe auf den Markt. Allein, ohne Hund, ohne Plan, ohne irgendeine Deadline, die im Nacken sitzt und „Los jetzt!“ flüstert. Nur ich und mein Einkaufsbegehren in Sandalen.
Das ist mein Selbstliebe-Samstag. Eine vorauseilende Zärtlichkeit für eine Woche, die voraussichtlich keinen Platz für mich lässt. Und dieser Samstag war einer von denen, die nach Hochsommer rochen – nach überreifem Obst, warmem Stein und einem leisen „mach dir keinen Stress“. Ich gehe zu Fuß. Eine gute halbe Stunde. Nicht joggend, nicht schwebend, nicht besonders zielgerichtet. Ich gehe einfach, mit stiller Freude, ohne Eile. Und mein kleines Städtchen spielt mit – herausgeputzt wie eine italienische Nonna am Sonntagmorgen. Das Fachwerk ein Blütenrausch, das Rathaus im Blumenkasten-Exzess. Alles scheint sich für mich in Pose geworfen zu haben.
Und dann: der Markt.
Er ist nicht groß. Aber groß genug, um mein Budget, meinen Einkaufszettel und meine Beherrschung zuverlässig außer Kraft zu setzen. Die Farben rufen laut: Pfirsich! Paprika! Paparazzi!
Die Bohnen liegen so akkurat in ihren Körben, dass man meinen könnte, sie hätten sich extra fürs Foto aufgestellt.
Ich lasse mich treiben, packe ein, was mir gefällt. Zu Hause werde ich meine Einkäufe nicht einfach verstauen, sondern aufstellen, feiern – so, wie andere ihre Bücher ins Regal rücken. Tomaten, leuchtend rot und nach Sonne riechend. Zucchini mit Bühnenpräsenz. Rüben, die wirken wie kleine Erdkugeln, in denen Geheimnisse verborgen sind.
Schöner Einkaufen als Gegenprogramm zum Funktionieren-Müssen. Ein Moodboard gegen das Muss.
Eine Marktfrau reicht mir einen Pfirsich. Ich beiße hinein, saftig, süß, warm von der Sonne – und für einen Moment ist alles egal. Auch die kommende Woche. Vor allem die kommende Woche.
Am Sonntag stelle ich entsetzt fest: Der August ist zur Hälfte rum, während die Wetterlage gerade erst zugelassen hatte, ihn zu genießen. Das Licht hat bereits umgeschaltet – goldener, weicher, voller Melancholie. Die Wespen wirken übermotiviert, die Bienen wie auf der Flucht. Die Natur hat’s eilig. Ich auch. Nur: ich komme nicht hinterher.
Ich sollte endlich notieren, was ich dieses Jahr nicht wieder vergessen will – all das, was seit Jahren in meinem Kopf schlummert und trotzdem immer wieder untergeht.
Es sind fast immer dieselben Dinge – so vertraut in ihrer Dauerpräsenz, dass ich manchmal selbst vergesse, wie lange sie schon darauf warten, ernst genommen zu werden. Und solange ich mich nicht um das kümmere, was längst in mir angelegt ist, bleibt das Neue draußen stehen. Nicht aus Ungeduld. Sondern, weil es begriffen hat, dass drinnen noch kein Platz für es ist.
Zwetschgen sind so ein alljährliches Versäumnis. Ich verpasse sie jedes Jahr. Und wenn es mir wieder einfällt, ist es zu spät. Kein Kuchen, keine Streusel, kein sahniger Trost am Sonntag. Nur dieses Traurigsein darüber, dass die Chancen nicht endlos sind – und die Frage, warum ich es trotzdem immer wieder vergesse.
Noch beharrlicher vergesse ich Tulpen.
Seit Jahren – wirklich: Jahren – nehme ich mir im Herbst vor, sie in Kübel zu pflanzen. Du kennst die Idee: mehrere Sorten, unterschiedliche Höhen, gestaffelt in Schichten. Die Zwiebeln sorgfältig versenkt, als würde ich ein blühendes Geheimnis anlegen. Und dann, Monate später, explodiert im Frühling alles – wie in Amsterdam, aber direkt vor der Balkontür. So ist es in meinem Kopf. In der Realität fällt mir das mit den Tulpen jedes Jahr direkt nach Weihnachten wieder ein – wenn ich innerlich schon fertig bin mit Winter und mich sehne nach Hyazinthen und Schneeglöckchen, die die Zeit bis zum Frühling verkürzen. Dann ist es zu spät, die Zwiebelkartons längst ausverkauft. Während andere schon die erste Blattspitze sehen, starre ich auf leere Kübel. Ich könnte jetzt sagen, es sei nicht so schlimm. Aber das wäre gelogen.
Es geht nicht nur um Blumen. Es geht um das Gefühl, sich selbst etwas versprochen zu haben – und es wieder nicht gehalten zu haben.
Und dann liegt da plötzlich diese rote Karte auf dem Pflaster.
„AUFMERKSAMKEITSKARTE – Bitte beachten Sie bei der nächsten Sendung die besondere Behandlung.“
Ich nehme sie mit. Für meine Zwetschgen, für meine Tulpen, für meine Ausrichtung.
Montag und Dienstag waren arbeitsam, aber unauffällig. So unauffällig, dass sie in meiner Erinnerung schon fast unter ‚Standardprogramm‘ laufen.
Mittwochabend: Dienstreise nach Schweden.
Im Flieger sitze ich am Fenster, neben mir eine ältere Dame, ordentlich, aufmerksam, konzentriert auf alles, was richtig gemacht werden muss. Ihr Mann am Gang, ein paar Jahre älter, wirkt leicht bockig, als sei ihm schon das Boarding zu viel gewesen. Über mehrere Reihen verteilt: eine Gruppe Rentner aus Freudenstadt. Ende sechzig, Anfang siebzig. Sehr schwäbisch, sehr laut, als wollten sie mit Geschnatter kaschieren, dass Reisen für sie eher Ausnahme als Routine ist. Für feinfühlige Ohren kein Geschenk. Ich bin müde – und gleichzeitig hellwach, weil ich auf diesem Flug genau weiß, wie ich später nicht sein will.
Es wird Wasser verteilt, eine kleine Plastikflasche für jeden. Kurz darauf die Durchsage, dass aus Nachhaltigkeitsgründen die leeren Flaschen wieder eingesammelt würden – bitte alle freundlich abgeben. Die Frau neben mir trinkt ihre Flasche in einem Zug leer, hält sie bereit, sitzt kerzengerade. Sie will alles richtig machen. In diesem Moment ist sie nicht Ende sechzig – sondern fünf.
Ihr Mann, der kaum mehr als einen Bodensatz übriggelassen hat, steckt die Flasche ins Gepäcknetz und stellt demonstrativ seinen Rucksack davor, sobald die Flugbegleiterin näher kommt. „Ich geb die nicht her”, sagt er leise. Und sie sagt nichts. Was vermutlich das Klügste ist.
Beim Aufsetzen dann tatsächlich Applaus. Gleich mehrere Reihen klatschen, als hätten wir gerade eine besonders waghalsige Landung hinter uns – oder als wären sie auf der Freilichtbühne in Freudenstadt. Ich bleibe stumm und wünsche mir in diesem Moment nichts mehr als Unsichtbarkeit.
Wir sind gelandet. Ich schiebe mich mit halboffenen Augen aus dem Flieger, lasse mich von der Masse Richtung Gepäckband treiben, nicke mechanisch beim Passieren von „Welcome to Stockholm“. Ein routiniertes Ankommen, das trotzdem Kraft zieht. An der Hotelrezeption das gleiche Schauspiel: Karten, Codes, ein Lächeln nach Vorschrift. Alles klappt, wie es soll. Aber ich merke: Es ist ein Business-Trip. Das Urlaubsfeeling der anderen Reisenden schwappt nicht auf mich über.
Herrliche Ruhe im klimatisierten Zimmer. Ich öffne ich den Laptop, schließe ihn um kurz vor Mitternacht wieder. Die Präsentation ist fertig und ich bin es auch.
Donnerstagfrüh: ein schnelles Frühstück, ein kurzer Spiegelblick. Ich sehe aus wie jemand, der dringend zwei Pfannkuchen mit Sahne braucht. Und genau die gibt es beim Kunden. Immer donnerstags. Ein süßes Ritual, so selbstverständlich, dass es inzwischen fast rührend ist. Ich nehme zwei. Ohne schlechtes Gewissen, mit Erdbeermarmelade, mit Sahne, mit Würde.
(Fotos? Gibt’s keine. Das ist ein anderes Leben. Business only.)
Abends zurück im Hotel trinke ich ein alkoholfreies Carlsberg – nicht aus Pflicht, sondern aus Zuneigung. Weil ich den frischen Kopf am Morgen mag, auch wenn man zwei davon getrunken hat. Der Blick aus dem Fenster fällt auf den Tower, der aussieht wie ein überhöhter Thermobecher. Ich sitze auf dieser typischen Scheinfensterbank, die jedes Flughafenhotel zu bieten scheint, und versuche meine Gedanken zu sortieren. Sie weigern sich standhaft.
Freitagmorgen, fünf Uhr und Stockholm ist schon hell. Ich verlasse das Hotel mit dem Gefühl, etwas vergessen zu haben – so geht es mir jedes Mal. Mein letzter Blick geht nach draußen, mein letzter Schluck gehört meiner treuen Ramlösa-Flasche. Sie ist kalt, klar – und schweigt frühmorgens so zuverlässig wie ich. Am Flughafen läuft alles reibungslos. Ich lande mittags in Frankfurt: der Körper zurück, die Seele noch irgendwo zwischen Duty-Free-Nebel und schwedischem Thermobecherhimmel. Und es dauert, bis ich mich wieder einsammeln kann.
Und jetzt?
Jetzt ist Freitag. Die Tulpenzwiebeln stehen immer noch auf der Liste. Die Zwetschgen auch.
Und ich frage mich, wann eigentlich mein Herbst beginnt.
Ich bin 56. Ich schreibe Einkaufslisten und Kolumnen, vergesse Tulpenzwiebeln und analysiere Wespen. Ich reise, ich backe Zwetschgenkuchen im Kopf, ich brauche manchmal 24 Stunden, bis meine Seele meinem Körper hinterhergeflogen ist.
Ich bin nicht angekommen – ich bin unterwegs.
Mit Ziel im Blick sauge ich auf, was das Leben hergibt. Mit Plan, aber ohne Perfektion. Mit Pfannkuchen fürs Wohlbefinden statt Botox. Mit Streuseln statt Stillstand.